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Geschwister von Claus

 

Von den 5 Geschwistern wird hier nur der Bruder Jürgen behandelt.
 
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claus@reusch-schleswig.de

Jürgen Reusch
9. Juli 1951 Schleswig
30. Juli 2016 Schleswig

 

Jürgen lernte nach der Schule zunächst Dekorateur und arbeitete danach auch noch ein wenig in dem Beruf.
Er malte ein wenig in Öl.


Als junger Mann zog er nach Göttingen und wurde Erzieher.
Einige Jahre später wechselte er nach Hamburg.
Er ging nur noch sporadisch einer geregelten Tätigkeit nach.
Als Straßenmusikant verdiente er sich ein wenig Geld dazu.

Trotzdem unternahm er wiederholt Reisen nach West- und Mitteleuropa.

Man war sich nicht gram, doch ein enger Kontakt zur Familie bestand nicht.
So befand sich in seinem Nachlass ein goldener Ring mit der Gravur Claudia und zwei Herzen.
Keiner weiß, wer diese Claudia ist.

Von Jürgen sind mehrere Hefte mit Skizzen und schriftlichen Aufzeichnungen erhalten.

ICH LIEBE DICH, MEHR SAG ICH NICHT
DAS REICHT DOCH WOHL FÜR HEUTE
VORHIN DA WAR ES NOCH SO SCHÖN
DAS ICH MICH WIRKLICH FREUTE.

ICH WILL JETZT GEHN, FÜR IMMER UND
ICH WÜNSCH DIR; LEB' SCHÖN WEITER
ICH AHN; DU WILLST DAS NICHT VERSTEHN
DAS IST AUCH GAR NICHT HEITER

DIE EIFERSUCHT ZERRISS DEIN HIRN
UND UNSER MITEINANDER
ICH SEH IM TUNNEL GAR KEIN LICHT
KEIN UFER, WO MAL LAND WAR

So., 19.6.92

Ich sitze und beglotzbobbel die Frau, die ich vor zwei Stunden gezeichnet habe. Das Bild ist nicht recht gelungen, denn sie ist springlebendig. Im Schiff genießen bin ich heute nicht gut - ach Schraube, holper doch nicht so.

Mo 20.7.1992
Über London schüttet eine Wolke den müden Rest eines Gewitters aus. Der erste Londonnachmittag ist fertig verbummelt - ich bin froh, meine Englandtölpelichkeiten als Jugendlicher hinter mich gebracht zu haben - und ich habe zwei Bitter im Bauch

Di 21.9.1992
Die Füße brennen und der Schlund ist trocken. Das Gebrüll der Stadt grabscht nach meinen Erinnerungen an den Vormittag.

Mi 22.7.1992
Ach! der Morgen
Es war so kläglich. Die Beine waren als ich aufwachte noch nicht hinreichend ausgeruht, zum Frühstück mußte ich hetzen, der Käse kostete viel Geld extra und die erschrockene Verständigung war schmerzhaft holperig.
Jetzt sitze ich endlich in einer wunderbaren Punk-Café-Laube an der Portobello Road und der Tag renkt sich ein.

Fr. 24.7.1992
Nun weiß ich wie es ist, einen vollautomatischen Zug zu steuern; Man tut einfach nichts. Das jagen durch die Tunnelkurven ist voll gut.

Sa. 25.7.1992
Wieder war ich in der Tate Gallery. Dort habe ich das "Bild der Eltern" von David Hockney gesehen und war hin und weg.
Zum Abschluß des erfüllten Tages war ich dann Indisch Essen; gut ist es gewesen und teuer.
Über die Tage in London bin ich froh.

So. 26.7.1992
Aufs Schiff gehen fiel mir leicht. Beim Abendessen habe ich dann einen Schweiger am Tisch mit Schweigen fertig gemacht. Danach in der Bar eine lange angeregte Unterhaltung mit Eheleuten aus dem Hannoverschen. Nun dampft der Dampfer durch die Nacht.


David Hockney: My Parents


Montag 10.8.92
Der Tag gestern war entsetzlich heiß. Es begann damit, daß ich die Wohnungstür hinter mir zuzog ohne Schlüssel in der Tasche! Dann die Bahnfahrt und dann erhob ich mich durch die dicke heiße Luft die über Lübeck lag, aß im Schweiß meiner Speckfalten Niederegger-Torte, begann in der Marienkirche zu frösteln und erstarrte vor erschöpft, angenehmen Erstaunen. Ich habe eine Einzelkabine mit breitem Bett und Dusche.
Heute: Beim Frühstück war es so voll. Am Tisch saßen Besserwessis und ein selbstbewußter Ossi; viele Wörter und wenig Lebensmittel zum Tagesanfang. Jetzt taucht im Osten (!) Gotland auf.
Es ist längst Nachmittag und das Schiff erzeugt keine Kreuzworträtselrater. Das Klavier macht: "Plom, plom, plim."
Die Zeit verstreicht in mäßiger Geschäftigkeit.

Di, 11.8.1992
Am Morgen früh zum Frühstück, und so bin ich jetzt zu müde für Helsinki
Das grobe Dach des nordisch Jugendstiligen Bahnhofs fängt den Staubgeruch der Plüschmöbel im Wartesaal ...

Mi, 12.8.1992
Ich bin jetzt 2 Stunden in Stockholm.
Im MODERNEN MUSEUM finde ich ohne Umweg, was ich in meinen Bildern suche: das anteilnehmende Bild des erwachsenen Menschen. Die Krieglosigkeit der schwedischen Geschichte macht es möglich.
Was für ein Glück! Zwanzig Minuten bin ich auf dem Kasten (ein Schiff ist das nicht, eher ein EKS [Einkaufszentrum zur See]) da fängt es an zu gewittern. Stockholm liegt hinter mir.
Ich sitze gut eingehüllt in das schiffige getucker des fernen Motors im Heck des Einkaufszentrums, sehe mit dem linken Auge die bewaldeten Ufer vorbei gleiten und schmecke mit der Zunge den Rest vom Krabbenbrot. In der Ferne funkelt die Sonne.

Do. 13.8.1992
Die Nacht war lang, doch wurde mir nicht so. Ausgeschlafen bin ich nun, aber die Schritte quälen sich auch heute durch Brei. Ich sitze wieder im Jugendstilbahnhof
Kopflos durch die Stadt irren: Kaum weiß ich wo links, wo rechts ist, wünsche, daß die Zeit schneller davontrödelt. Ich fürchte, mich in der Strukturlosigkeit der kommenden fünf Stunden zu ertränken.
Ich kaufte Lachs. Beim Essen am Hafen guckte mir Emma zu und freute sich über die Bröckchen Fische die sie geschenkt bekam. Als ich ihr aber die große Fischhaut zuwarf stürzte sich, zu ihrem und meinem Schreck, eine überdimensionale Sturmmöwe darauf und verschlang mit einem einzigen Zuschnapp das zweihandflächengroße Stück Lachspelle. Arme Emma!

16.8.1992
Zurück in Hamburg kleben sich meine Blicke wieder an die vertrauten Lindenbäume in der Straße. Die Schiffahrt war ein Rausch an Menschenerlebnissen. Da war der sonderbar freundliche Esoteriker aus der Pfalz mit dem ich die Kabine teilte, der mir ein Bier ausgab und mich mit "da kommt ja das Kumpelchen" mitternachtlich vom Bett aus begrüßte. Da war der Tüdelgreis aus Enschede der so froh war mit mir Platt reden zu können, und da war Frau Kewenich, die mich von Zeit zu Zeit wie durch einen Watteschleier kurzsichtig grüßte. Da war das bebrillte Mädchen, das immer am gleichen Tisch saß und sich nicht in ihr Buch zu vertiefen mochte und dann Philipp, der Münsterländer aus Köln.
Ich bin so froh, daß diese Reise keineswegs mit den Selbstbezichtigungen des Sozialfeiglings enden muß.


Helsinki Hauptbahnhof

 


Jürgen fertigte etliche Skizzen von sich.

In seinem Nachlass fand sich ein goldener Ring mit der Gravur Claudia. Wer ist diese Claudia?

In seinem Adressbuch findet sich dieser Name nicht, aber vielleicht haben sie ja irgendwann zusammen gewohnt.

Als ihm seine Hamburger Wohnung nach über drei Jahrzehnten gekündigt wurde, zog er nach Bremen; das Wohnen in Hamburg war ihm zu teuer geworden. Er hoffte, in Bremen Kontakte knüpfen zu können, um auch dort Straßenmusik zu machen. Zunächst hatte er allerdings Schwierigkeiten, die Stimme versagte, und er lutschte Hustenbonbons. Als er erfuhr, dass er an ALS litt, war es bereits zu spät. [Die Amyotrophe Lateralsklerose ist eine sehr ernste Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems. Die Krankheit ist nicht heilbar, der Fortschritt lässt sich aber hemmen. Meistens beginnt es damit, dass Glieder nicht mehr gesteuert werden können; bei Jürgen begann es im Mund.]
 

facebook 25.Dezember 2015:
Liebe Bremer Stadtmusikanten,
Ich brauch dringend jemanden, der oder die bereit ist meine Lieder zu singen. Ich kann das nicht mehr. Ich könnte Gitarre dazu spielen.

 

Jürgen kam in ein Schleswiger Pflegeheim. Dort verschluckte er sich an einem Stück Rosinenbrot, bekam keine Luft mehr und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Einige Wochen später verschluckte er sich erneut an  Rosinenbrot; diesmal erlangte er sein Bewusstsein nicht mehr zurück. Er starb am 30. Juli 2016, 1:30 Uhr.